Müller-Hof Newsletter – September 2023
art – AktuelleRechtsTipps
Arbeitsrecht: Neue „Erstbescheinigungen“ können hinterfragt werden
Im unverschuldeten Krankheitsfall muss der Arbeitgeber Entgeltfortzahlung bis zur Dauer von sechs Wochen leisten (§ 3 Abs.1 Satz 1 EFZG). Wenn der bereits kranke Arbeitnehmer eine neue Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als „Erstbescheinigung“ ausgestellt bekommt, kann eventuell die sechswöchige Fortzahlungsdauer von vorne beginnen – dies muss aber nicht immer der Fall sein. In der Praxis wird dies jedoch oft nicht hinterfragt.
Wenn z.B. nach sechswöchiger Krankheit, die bis Freitag attestiert wurde, am darauffolgenden Montag eine „Erstbescheinigung“ mit angeblich anderer Krankheit oder von einem anderen Arzt ausgestellt wird, entsteht nicht zwangsläufig ein erneuter Entgeltfortzahlungsanspruch. Denn es gilt die „Einheit des Verhinderungsfalls“: Der Arbeitnehmer muss darlegen und im Streitfall beweisen, dass die alte Krankheit ausgeheilt war, bevor die neue Krankheit aufgetreten ist. Nur unter der Voraussetzung einer solchen Unterbrechung entsteht ein neuer Zahlungsanspruch. Überschneidet sich aber z.B. eine psychische Erkrankung mit einer hinzukommenden orthopädischen Erkrankung, wird das Entgelt nur für insgesamt sechs Wochen gezahlt und nicht länger – auch wenn eine neue Krankheit hinzugekommen ist, eine „Erstbescheinigung“ ausgestellt wurde und die Ausfalldauer insgesamt länger als sechs Wochen ist. Maßgeblich ist die zeitliche Überschneidung zwischen alter und neuer Krankheit, die eine Neuentstehung des Entgeltfortzahlungsanspruchs verhindert. Der Arbeitgeber kann den Einwand der „Einheit des Verhinderungsfalls“ erheben, wenn die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zeitlich unmittelbar aufeinanderfolgen, sich sogar überschneiden oder dazwischen nur ein arbeitsfreier Tag oder ein Wochenende lag. Diese Rechtslage hat das BAG u.a. im Urteil vom 11.12.2019 (5 AZR 505/18) bestätigt.
Hatte der Arbeitnehmer eine Krankheit auskuriert und wurde später wieder aufgrund derselben Krankheit arbeitsunfähig, würde die Entgeltfortzahlung erst dann wieder beginnen, wenn die Zeitspanne zwischen der vorherigen und jetzigen Erkrankung mindestens sechs Monate beträgt oder wenn seit Beginn der erstmaligen Arbeitsunfähigkeit infolge derselben Krankheit eine Frist von zwölf Monaten verstrichen ist (§ 3 Abs. 1 Satz 2 EFZG). Beispiel: Wer im Januar/Februar, Mai/Juni und Oktober/November eines Jahres jeweils sechswöchige Rheuma-Anfälle hat, bekommt nur im Januar/Februar Entgeltfortzahlung, danach in diesem Jahr nicht mehr. Bei dieser Frage, ob dieselbe Krankheit vorher schon vorlag, muss der Arbeitnehmer laut BAG zwar nicht abschließend beweisen, dass keine vorherige gleiche Erkrankung vorlag, die nun einen Entgeltfortzahlungsanspruch ausschließen könnte. Bestreitet der Arbeitgeber jedoch, dass eine neue Erkrankung vorliegt, hat der Arbeitnehmer Tatsachen vorzutragen, die den Schluss erlauben, es habe keine Fortsetzungserkrankung bestanden. Dazu muss der Arbeitnehmer schildern, welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Beschwerden mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit zuletzt bestanden, und auch die behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht entbinden. Denn erst auf dieser Grundlage ist dem Arbeitgeber möglich, mit substantiiertem Vortrag eine Entgeltfortzahlung unter Hinweis auf eine Fortsetzungserkrankung abzuwehren. Letzten Endes liegt die Beweislast allerdings beim Arbeitgeber: Ist das Gericht nach dem Vortrag beider Parteien nicht von einer Fortsetzungserkrankung überzeugt, geht dies zulasten des Arbeitgebers, er muss also Entgeltfortzahlung leisten. Das ergibt sich aus einem aktuellen BAG-Urteil vom 18.01.2023 (5 AZR 93/22).
Es ist demnach ratsam, nicht immer bei einer „Erstbescheinigung“ ohne Weiteres neue Entgeltfortzahlung zu leisten, sondern zu prüfen, inwieweit Anlass zur Hinterfragung des neuen Entgeltfortzahlungsanspruchs besteht.
Im Zusammenhang mit Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ist am Rande noch weitere neue Rechtsprechung zu erwähnen: Danach kann der Beweiswert einer solchen Bescheinigung im Einzelfall erschüttert sein, wenn die Krankmeldung unmittelbar als Folge der arbeitgeberseitigen Kündigung oder der Eigenkündigung erfolgt und (gegebenenfalls auch mit Verlängerung) den ganzen Zeitraum bis zum Ablauf der Kündigungsfrist abdeckt (beginnend mit BAG-Urteil vom 08.09.2021, 5 AZR 149/21). Wenn der Beweiswert der Bescheinigung erschüttert ist, ist der Arbeitnehmer gehalten, eine tatsächlich bestehende Arbeitsunfähigkeit z.B. durch aussagekräftigeres Arztattest oder Benennung des Arztes als Zeuge im Gerichtsverfahren nachzuweisen. Gelingt ihm das nicht, hat er keinen Entgeltfortzahlungsanspruch.